Dr. Franziska Giffey
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
11018 Berlin
Dresden, 06.11.2019
Sehr geehrte Frau Bundesministerin Dr. Giffey,
Sachsen ist in aller Munde: Rassistische Aufmärsche und Angriffe gehören zur Normalität -
wir denken an Freital, Heidenau oder Chemnitz, mehrere rechte Terrorgruppen haben
Anschläge verübt, der NSU hat hier seine Basis und sein Netzwerk. Eine rechtsautoritäre,
offen rassistische Partei war bei den sächsischen Landtagswahlen zweitstärkste Kraft.
Geflüchtete und Migrant*innen denken über Wegzug nach, es gibt Gegenden, in denen ihre
Sicherheit nicht gewährleistet ist.
Engagement in Sachsen stärken
Viele Menschen in Sachsen engagieren sich für Menschenrechte und Demokratie und
gegen Rassismus und Ausgrenzung. Wir als Modellprojekte im Bundesprogramm
„Demokratie leben!” sind mit unserer politischen Bildungsarbeit ein wichtiger Teil davon. Wir
klären auf, wir stiften Teilhabe, wir empowern und wir stehen beruflich und ganz persönlich
für demokratische Werte in einem zunehmend autoritären, feindlichen Klima ein.
Doch nun stehen unsere Initiativen vor dem Aus. Statt ehemals 18 werden in Sachsen ab
2020 nur noch sechs Modellprojekte im Programm „Demokratie leben!” gefördert. Das ist ein
radikaler Einschnitt in die Qualität der politischen Bildungs- und Demokratiearbeit und in
demokratisch-zivilgesellschaftliche Strukturen in Sachsen.
Die Modellprojekte richten sich insbesondere an Zielgruppen, die durch andere Institutionen
der Regelstrukturen nicht oder nur schwer erreicht werden. Es zeigt sich, dass viele
Erwachsene und junge Menschen spezielle Angebote benötigen, um wirksam am
demokratischen Leben teilhaben zu können. Modellprojekte können auf die spezifischen
Anforderungen der Kontexte im städtischen und ländlichen Raum, in der Freizeit, der Schule
und der Arbeitswelt professionell eingehen.
Gefährdet sind Prävention, Auseinandersetzung und Bildung rund um die Themen:
Rassismus, Antiziganismus, Sexismus, Homo- und Transfeindlichkeit, Antisemitismus,
völkischer Nationalismus, Neonazismus und extreme Rechte, Verschwörungsideologien,
Abwertung erwerbsloser und armer Menschen.
Selbstorganisationen stärken - Empowerment für eine vielfältige Gesellschaft
In den Förderaufrufen des Ministeriums wird mehrfach betont, dass Perspektiven von
marginalisierten, von Diskriminierung betroffenen Gruppen einbezogen bzw. zum
Ausgangspunkt der Arbeit gemacht werden sollen. Trotzdem wurden die meisten
Interessensbekundungen von Selbstorganisationen abgelehnt. Das ist ein herber Verlust
und schickt besonders migrantische Selbstorganisationen in die Unsichtbarkeit. Doch die
Stimmen von Geflüchteten, Migrant*innen und anderen von Diskriminierung betroffenen
Menschen brauchen Verstärkung, gerade in Sachsen!
Wir brauchen ein transparentes Verfahren und nachhaltige Förderung
Das Auswahlverfahren der Projekte ist nicht transparent. Selbst positive Bewertungen
anerkannter Träger, Konzepte oder Ansätze scheinen nicht in die Förderpolitik eingeflossen
zu sein. Auswahlkriterien und -verfahren müssen transparent gemacht werden.
Bildung funktioniert nicht über Nacht, sondern bedarf Dauerhaftigkeit. Die nachhaltigen
Netzwerke, die wir initiieren und stärken, ermöglichen eine zuverlässige Ansprechbarkeit
während der Projektlaufzeit. In allen Sparten unserer Arbeit verstärkt sich der Bedarf massiv.
Unsere Glaubwürdigkeit bezüglich unserer Schwerpunkte bedarf daher einer
kontinuierlichen Arbeit.
Stattdessen herrscht eine prekäre Lebens- und Arbeitssituation für die Angestellten. Die
Bewerbung um Projekte befördert Konkurrenz zwischen Trägern, die eigentlich kooperieren
und sich ergänzen. Weder werden Inhalte nachhaltig erhalten, noch faire Arbeitsverhältnisse
gestiftet.
Wir brauchen dringend dauerhafte, verlässliche und nachhaltige Förderung demokratischer
Bildungsarbeit. Die gegenwärtige politische Situation lässt sich nicht allein im Ehrenamt
stemmen.
Die Bundesstruktur kann stärken und schützen
Die Schwerpunktverschiebung hin zu den kommunalen „Partnerschaften für Demokratie“
(PfD) und zulasten der zivilgesellschaftlichen Modellprojekte schafft zwei weitere Probleme.
Zum einen fördern die „Partnerschaften für Demokratie“ mit geringen Beträgen überwiegend
ehrenamtliches Engagement und ermöglichen somit nur in geringem Umfang professionelle
Arbeit von Fachkräften vor Ort. Wir schätzen diese kleinteilige Präventionsstruktur, aber sie
ersetzt weder die Erprobung und Etablierung modellhafter Ansätze, noch sichert sie Stellen
für Fachkräfte und eine langfristige Expertise.
Zum anderen besteht die Gefahr, dass die Vergabe wichtiger Projektförderung durch
Kommunen verhindert wird. Dies ist dann der Fall, wenn in Begleitausschüssen der
„Partnerschaften für Demokratie” wenig Expertise vorhanden ist oder sie unter Druck extrem
rechter Politiker*innen stehen. Gerade in Sachsen sind extrem rechte Politiker*innen in
vielen Kommunalparlamenten vertreten. Das heißt, zivilgesellschaftliche Projekte werden
nicht nur angefeindet, sondern in ihrer Existenz bedroht. PfD und Modellprojekte ergänzen
sich vor Ort sinnvoll und geben sich gegenseitig fachliche und methodische Unterstützung.
In Sachsens stehen zivilgesellschaftliche Initiativen zunehmend unter Druck. Sie erleiden
durch ihre klare Haltung für Demokratie und gegen antidemokratische Positionen verbale
Anfeindungen und gewalttätige Angriffe. Die wenigen vorhandenen demokratischen
Initiativen erhalten wichtige Rückendeckung von Modellprojekten. Dieser Rückhalt wird ab
2020 fehlen.
Je mehr Zeit wir verlieren, desto mehr Boden gewinnen die Antidemokrat*innen!
Solidarität darf kein Lippenbekenntnis sein, daher fordern wir von der
Bundesregierung für Sachsen:
1. Die mittlerweile zusätzlich in Aussicht gestellten 8 Millionen Euro für das
Bundesprogramm „Demokratie leben!“ im kommenden Jahr müssen für die
Finanzierung weiterer Modellprojekte, u.a. in Sachsen, verwendet werden.
2. Zusätzlich zu innovativen Modellprojekten muss politische Bildung und
Demokratiearbeit dauerhaft und institutionell gefördert werden. Es bedarf der
Weiterförderung erfolgreicher Ansätze. Dazu muss endlich der gesetzliche Rahmen
geschaffen werden.
3. Ein transparentes System der Bewertungen und Entscheidungen der
Interessenbekundungen.
4. Die Einrichtung eines Beirats, in dem Trägerorganisationen Einfluss auf die künftige
Ausgestaltung nehmen können.
5. Die Umsetzung der Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des
Deutschen Bundestages.
Wir schließen uns weiterhin der Forderung des bundesweiten offenen Briefes „Demokratie
mobilisieren” vom 18.10.2019 an, die Mittel
auf 200 Millionen Euro jährlich für die gesamte Förderperiode aufzustocken. Die
Aufstockung sollte denjenigen Projekten und Aktivitäten zugutekommen, die auf derzeitige
und auf künftige Probleme Antworten finden.
Frau Bundesministerin Giffey, wir sind nicht umsonst Teil von „Demokratie leben!”. In den
vergangenen fünf Jahren haben wir gemeinsam konstruktive und innovative Arbeit geleistet.
Das Programm ist notwendig und wirkt. Nun stellen wir fest, es braucht mehr davon. Die
Vielzahl der Interessenbekundungen offenbart den großen Bedarf und die Attraktivität des
Programms.
So hoffen wir, dass Sie unsere Forderungen nicht nur als Kritik, sondern auch als
Rückenwind für die anstehenden ministeriellen Verhandlungen verstehen, und deswegen
bitten wir Sie, übernehmen Sie Verantwortung!
Unterzeichner*innen der Modellprojekte aus Sachsen (Interessenbekundung für neue
Förderperiode eingereicht):
Amadeu Antonio Stiftung Sachsen (Benjamin Winkler)
Antidiskriminierungsbüro Sachsen e.V. (Sotiria Midelia, Geschäftsführerin)
Arbeitsbereich MUT/AGJF Sachsen e.V. (Kai Dietrich)
ASA-FF e.V. (Franz Knoppe, Vorstand & Projektleitung)
Courage - Werkstatt für demokratische Bildungsarbeit e.V./NDC Sachsen (Ralf Hron,
Vorsitzender)
cultures interactive e.V. (Silke Baer, Geschäftsführung)
Forum B - Prozesse in Begleitung e.V. Leipzig
Hatikva e.V. (Lenka-Maria Lange, Vorstand)
Jugendverein Roter Baum e.V.
Kulturbüro Sachsen e.V. (Grit Hanneforth, Geschäftsführerin)
LAG politisch-kulturelle Bildung Sachsen (Kerstin Knye, Bildungsreferentin)
LAG Queeres Netzwerk Sachsen e.V. (Britta Borrego, geschäftsleitende
Bildungsreferentin)
Umweltzentrum Dresden e.V. (Tom Umbreit, Geschäftsführer)
Weiterdenken - Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen (Stefan Schönfelder, Geschäftsführer)
Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur e.V.
Unterstützer*innen/Kooperationspartner*innen der Modellprojekte:
Alternatives Jugendzentrum e.V. Dessau
anDemos-Institut für angewandte Demokratie- und Sozialforschung e.V. (Julia Schulze
Wessel, Mitglied des Vorstands)
Augen auf e.V. - Oberlausitz
BettelLobby Dresden
Bündnis gegen Rassismus - Für ein gerechtes und menschenwürdiges Sachsen
coloRadio Dresden e.V. (Martin Schroeder, Projektleitung Lokal.Sozial.Medial.)
DGB-Bezirk Sachsen (Markus Schlimbach, Vorsitzender)
DGB-Regionsgeschäftsstelle Dresden - Oberes Elbtal (André Schnabel, Geschäftsführer)
Dresden Postkolonial
Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig/ Erinnern an NS-Verbrechen in Leipzig e.V.
Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (Jakoba Schönbrodt-Rühl,
Geschäftsführerin)
Gruppe gegen Antiromaismus Dresden
Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt (Rebecca Plassa, Geschäftsführerin)
HELLERAU - Europäisches Zentrum der Künste (Dr. des. Frauke Wetzel, Audience
Development, u.a. Projekt RomAmoR)
Katrin Fischer, Vorstand, Wirtschaft für ein weltoffenes Sachsen e.V.
Marika Schmiedt, Künstlerin, Wien
Markus Pape, Historiker, Prag
Michael Wermes, Historiker, Leipzig
Netzwerk RomaRespekt (Kathrin Krahl, Projektleitung)
Netzwerk Tolerantes Sachsen
NOMOS Glashütte/SA Roland Schwertner KG
Politischer Jugendring Dresden e.V. (Marcus Weber, August Funke, Charlott Ebert,
Vorstand)
Prof. Dr. Uwe Hirschfeld, Politische Theorie und Bildung, Evangelische Hochschule Dresden
Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie - RAA Sachsen e.V. (Maren
Düsberg und Robert Kusche, Geschäftsführung)
riesa efau. Kultur Forum Dresden (Frank Eckhardt, Geschäftsführer und Susanne Gärtner,
politische Bildnerin)
Romano Sumnal e.V. - Verein der Roma in Sachsen (Gjulner Sejdi, 1. Vorsitzender)
Sächsische Landesarbeitsgemeinschaft Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
(Daniela Schmohl, Josephine Ulbricht, Uwe Hirschfeld, Klaus Hammerlik, Sprecher*innenrat)
Stefanie Busch, Bildende Künstlerin, Dresden
Treberhilfe Dresden e.V., (Dieter Wolfer, Geschäftsleitung / Gesamtkoordination)